|
|
Basierend auf der Schilderung der polnischen Außenpolitik in den Veröffentlichungen:
"Wenn es den Leitern der Außenpolitik der Republik gelungen ist, die Sicherheit der Ostgrenzen des Staates durch Abschluß des Nichtangriffspakts mit Sowjet-Rußland zu garantieren, so kann diese Tatsache nur eine Bedeutung haben: sie macht uns die Hände gegenüber Deutschland frei." Mit diesen Worten appellierte der Oberst und bis dahin stellvertretende Außenminister Joseph Beck im Oktober 1932 an Marschall Pilsudski, den diktatorischen Lenker der Staatsgeschäfte. Er forderte den sofortigen Angriff auf Deutschland und hatte dabei den kurz vor der Ratifizierung stehenden Nichtangriffsvertrag mit der UdSSR im Blick. Die Lage für einen Krieg sei deshalb jetzt so günstig wie nie, ein "Krieg, um die Befreiung der polnischen Territorien vom deutschen Joch" anzugehen. Die Armee sei bereit. Was sich aus heutiger Perspektive geradezu unfassbar militant anhört, gehörte für Joseph Pilsudski, und nicht nur für ihn, seit Jahren zum Alltag. Osteuropa war von den alliierten Siegermächten des Ersten Weltkriegs nach kurzer Zeit weitgehend sich selbst überlassen worden. Folgerichtig zählte in den Folgejahren dort nur die Macht, die aus den Gewehrläufen der Region kam. Einige französische Truppen standen zwar noch im deutschen Memelland, das sich die Sieger im Versailler Vertrag zur freien Verfügung über Mensch wie Vieh hatten abtreten lassen, um es später nach einer polnischen Eroberung Litauens an Polen übergeben zu können. Sie blieben jedoch unbeteiligte Zuschauer, als schließlich litauische Einheiten das Gebiet okkupierten. Zu den typisch vagen und unsicheren Verhältnissen vor Ort gehörte es, daß im Polen der Zwischenkriegszeit vielerorts wohlfeile Pläne erörtert wurden, wie die bestehenden Grenzen auf Kosten verschiedener Nachbarstaaten geändert werden konnten, durch deren Teilung oder Annexion, in jedem Fall aber zu Gunsten Polens. Eine generelle Angriffsrichtung gab es nicht. Nachdem seine eigene Attacke auf die UdSSR zur Eroberung der Ukraine und Weißrußlands mit einem fahlen Kompromißfrieden zu Ende gegangen war, visierte Pilsudski selbst gern die Tschechoslowakei an, die er als "europäische Unmöglichkeit" bezeichnete und deren Zerschlagung er befürwortete. Zugleich hielt er die Hauptstadt des Nachbarstaats Litauen besetzt und zog an der polnischen-litauischen Demarkationslinie ein Grenzregime auf, das sich in etwa an den Zuständen der späteren innerdeutschen Grenze orientierte. Das Pilsudski-Polen betrachte den damaligen Verlauf der europäischen Grenzen nur als das Minimum, was Polen eigentlich zustand, schrieb der französische Botschafter in Warschau. Die Pilsudskisten wollten alles behalten, was Polen bereits in Versailles zugesprochen worden war, aber zugleich hatte sie wenigstens nach drei Richtungen geheime und uneingestandene Ziele. Daher drängten die Debatten nationalistischer Hitzköpfe darüber, ob man zuerst Minsk, Dünaburg oder Königsberg annektieren sollte, bei zahlreichen Gelegenheiten auf Pilsudski ein. Der Mythos, es gäbe in der Weimarer Republik irgendwelche urpolnischen Gebiete zurückzuerobern, gehörte dabei zur erweiterten Grundausstattung radikaler Gruppen. Einerseits waren sie ein nützliches Element, das sich immer zur Begründung von kompromißlosen polnischen Verhandlungspositionen vorweisen ließ. Andererseits machten sie dem Diktator mit allzu lauten Äußerungen seit langer Zeit das außenpolitische Leben schwer. Oft genug war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sich deutlich zu distanzieren. Ein paar Jahre zuvor hatte er gegenüber dem deutschen Außenminister Gustav Stresemann zugeben müssen, daß manche Kreise in Polen "mit der Eroberung Ostpreußens liebäugeln". Er erkläre diese Leute zu "Narren". Stresemann sei ermächtigt, von dieser Äußerung öffentlich Gebrauch zu machen. Die Differenz zwischen Narren und klugen Außenpolitikern bestand für Pilsudski vorwiegend in der genauen Beobachtung der internationalen Szene. Spätestens an der deutschen Grenze endete Osteuropa und damit die Zone, in der durch kleine Militäraktionen leicht Tatsachen zu schaffen waren, das wußte er. Einen Angriff auf Deutschland konnte die Republik Polen nie zu einem erfolgreichen Ende bringen, wenn es dafür nicht die politische Billigung der Westmächte Frankreich und England gab. Er würde sich andernfalls nur dahinschleppen, teuer werden und bei einem bloß zweiseitigen deutsch-polnischen Krieg früher oder später wahrscheinlich sogar mit einer Niederlage enden. Diese westliche Zustimmung aber war bisher nicht zu finden gewesen. Ungeachtet dessen herrschte bei den entscheidenden Stellen in Deutschland im Jahr 1932 kein Zweifel über die polnischen Angriffsabsichten. Was für die Öffentlichkeit angesichts der innenpolitischen Verhältnisse ein Randthema blieb, erforderte sofortige Gegenmaßnahmen, Reichswehrminister Gröner bereiste im März des Jahres Ostpreußen und warnte die Republik Polen in Reden und Aufsätzen vor einem Angriff. Seit dieser Zeit begann man in Ostpreußen mit dem Bau einer improvisierten Verteidigungslinie, um den polnischen Marsch auf Königsberg im Fall der Fälle wenigstens eine Zeitlang aufhalten zu können. Nachdem er Becks Brief gelesen hatte, verstärkte Pilsudski seine außenpolitischen Anstrengungen. Die Meinung des Obersten galt ihm etwas, hatte man doch bereits im Ersten Weltkrieg in der polnischen Legion gemeinsam gekämpft. Pilsudski hatte Beck später persönlich für den diplomatischen Dienst entdeckt. Wenige Tage nach Erhalt des Briefs beförderte er ihn jetzt vom Stellvertreter des Ministers zum Leiter der polnischen Außenpolitik. Letzten Endes vererbte er ihm den Posten förmlich, so daß Beck bis zur Katastrophe von 1939, als ihm alle Voraussetzungen für einen erfolgreichen Krieg gegen Deutschland endlich erfüllt schienen, weitgehend frei schalten und walten konnte. Dabei wurde er von einem gehobenen Wertgefühl getragen, das sich gelegentlich in kuriosen Selbsteinschätzungen entfaltete: "Herr Hitler hat hervorragende staatsmännische Fähigkeiten, aber er ist trotzdem nicht der Oberst Beck." Diese und andere Äußerungen Becks wurden in Diplomatenkreisen kolportiert und ließen den "Chef der eigentlichen Ostpolitik", deren Fäden nach seinem Anspruch in Warschau zusammenzulaufen hatten, in den Augen anderer Diplomaten zu einer schrägen Figur werden. Am Rande einer Konferenz in London verglich ihn der tschechoslowakische Gesandte wegen seiner merkwürdigen Grimassen "mit einem ehrlosen Ränkeschmied in einem schlechten Detektivfilm. Ich erwähne dies nur deswegen, weil vier verschiedene Delegierte zu mir kamen und mir spontan mitteilten, sie hätten den gleichen Eindruck wie ich." Bereits seitdem er als polnischer Militärattache in Paris dem französischen Geheimdienstchef höchstpersönlich einen vertraulichen Bericht vom Schreibtisch gestohlen hatte, hatte Beck in den westlichen Hauptstädten persönlich mit Widerständen zu kämpfen, was in Berlin nicht unbemerkt blieb: "In keinem Lager habe ich mit Wärme oder Anerkennung von ihm sprechen hören", erinnerte sich Ernst v. Weizsäcker, der wohl auch deshalb die ganze polnische Außenpolitik der unmittelbaren Vorkriegszeit auf eine merkwürdige Art nebulös fand: "Selbst mit erklärten Gegnern pflegt man sonst irgendeinen festen Grund zu finden". Im Winter 1932 wollte Beck der Außenminister des Angriffs auf Deutschland werden. Dafür handelte er schnell und entschieden. In den Monaten zuvor hatte es lange Debatten mit Paris gegeben, da die französische Regierung zwar derzeit wenig für ihre östlichen Verbündeten tat, sich aber immer gern mit Vorbehalten aller Art zu Wort meldete, um ihre zentrale Rolle zu betonen. Aktuell gab es Streit über den bereits unterschriebenen, aber noch nicht ratifizierten polnischen Nichtangriffspakt mit der UdSSR, den man in Paris nur billigen wollte, wenn die UdSSR auch mit Rumänien einen solchen Vertrag schloß, wozu man aber in Rumänien wenig Neigung zeigte. Mit diesem Konflikt machte Beck Schluß. Die französische Regierung "will uns zurückhalten" und denkt an einen Ausgleich mit Deutschland, hatte er an Pilsudski geschrieben. Überhaupt sei die deutsche Schwäche ein vorübergehendes Phänomen, das jetzt oder nie zu nutzen sei: "Wenn das nicht erkannt wird, werden nicht nur wir selbst, sondern auch unsere Kinder nicht Gross-Polen erleben." Wenig später ließ Beck einen weiteren Brief an Pilsudski folgen und schlug als Sofortmaßnahme ein hartes Auftreten gegenüber Rumänien vor, um eine Entscheidung zu erzwingen. Kaum im Amt, stellte er dann in Bukarest die kategorische Frage "Ja oder Nein". Als eine verbindliche Antwort ausblieb, wurde der Nichtangriffspakt am 27. November ratifiziert. Damit schien die polnisch-sowjetische Versöhnung für den Moment definitiv besiegelt. Noch hatte sich nicht herumgesprochen, was von sowjetischen Nichtangriffspakten zu halten war. Der Weg nach Deutschland stand nun also offen - falls die Westmächte so reagierten wie gewünscht und in dem neuen polnischen Selbstbewußtsein nicht die Aktionen eines machtlosen Querulanten, sondern die eines wertvollen Verbündeten sahen. Um einen solchen Verbündeten müsste man dann kämpfen, so das Kalkül in Warschau, gegebenenfalls indem man ihm ein weiteres Stück deutschen Staatsgebiets zugestand. Um in Paris die Einsicht, "Wir können auch anders" zu fördern, warf Pilsudski bald darauf die französische Militärmission unter möglichst unwürdigen Umständen aus dem Land und gewöhnte es sich kurzfristig an, für französische Diplomaten "verreist" zu sein. Dies folgte Becks neuer Maxime: "Es kann und muß eine selbständige polnische Politik geben. Nicht nur wir sind verpflichtet, mit den Interessen Frankreichs zu rechnen, auch Paris ist in nicht geringerem Maße verpflichtet, mit den Interessen Polens zu rechnen." Zeitgleich ging Beck ebenfalls entlang der gegenüber Pilsudski entworfenen Linie gegen Deutschland an jenem bekannt heiklen Punkt auf Konfrontationskurs: "Der Moment zeitweiliger Schwäche Deutschlands darf von uns nicht versäumt werden. Der Polnisch-Danziger Konflikt muß eine scharfe Form erhalten." Er begann um die Jahreswende 1932/33 einen Streit in Danzig, indem er illegale Truppenverstärkungen auf der Westerplatte anordnete,. Am Ende blieb diese Taktik für dieses Mal erfolglos. Die Westmächte hielten sich zurück und die wenige Wochen später ernannte nationalsozialistische Regierung gab einer polnischen Provokation keinerlei Resonanz, sondern zeigte sich sogar bereit, viele von den Weimarer Regierungen bisher abgelehnte Forderungen zu akzeptieren, wie etwa die Anerkennung der bestehenden deutsch-polnischen Grenzen. Das hatte Beck noch im Brief an Pilsudski für unmöglich erklärt. Statt einen Angriff auf Deutschland riskieren zu können, sah sich Polen Ende des Jahres 1933 ausmanövriert und mußte schließlich, wie mit der UdSSR, nun auch mit Deutschland einen Nichtangriffspakt eingehen. Begleitet wurde dieses Manöver allerdings bis zuletzt von weiteren Anfragen in Paris wegen einer Militäraktion. "Wir waren gezwungen, mit den durch nichts gezügelten Nachbarn Verträge zu schließen," empörte sich Beck im nachhinein über die Situation. "Schon morgen wird es zu spät sein, Deutschland die angestammten polnischen Gebiete zu entreissen, die man heute noch der Republik zurückbringen kann!", hatte er 1932 geschrieben. Dies war eine Einsicht, die er in den Folgejahren zurückstellte. Ungeachtet des deutsch-polnischen Nichtangriffspakts stand die polnische Armee auch weiter zum Militärschlag bereit und Beck bot in Frankreich weiterhin einen Angriff an, wenn ihm dies günstig erschien, so etwa nach der Rheinlandbesetzung. Auch 1938 träumte er noch von dem maximalen Gewinn für Polen, der aus einer deutschen Katastrophe hervorgehen sollte, von "unserem Schlesien, unserem Ostpreußen und unserem Pommern." Für die meisten Ohren in der Berliner Republik von 2010 klingt dies so unwirklich wie je. Ein historischer Fakt ist es dennoch. Es ging also um den Rang des polnischen Staates innerhalb Europas und letzten Endes um die Selbstdefinition Polens: Wollte es eine unabhängige europäische Großmacht sein, die sich alle Optionen offen hielt? Oberst Michalowski, militärisch-diplomatischer Mitarbeiter der polnischen Botschaft in London und angeblich Intimus von Außenminister Beck, hatte dem tschechoslowakischen Gesandten Masaryk im November 1934 erklärt, die neue polnische Politik sei derzeit dieselbe wie die traditionelle englische: "splendid isolation, sich nicht überflüssigerweise Feinde zu machen, aber sich an keinen zu binden, und nach Bedarf ... das Gewicht der polnischen Großmacht auf diese oder jene Seite" zu geben. Es war die klassische Formulierung jenes haltlosen Großmachtegoismus, der Europas dreißiger Jahre prägen sollte und am Ende in den Krieg mündete. Masaryk war sprachlos, dies gerade von polnischer Seite zu hören: "Ich habe keine Worte gefunden, um ohne Beleidigung auf diesen infantilen Vergleich Polens mit England antworten zu können, und habe nicht reagiert. Oder war Polen doch bereit, seine Politik mit einem seiner beiden großen Nachbarn zu koppeln? Wollte es Teil einer gesamteuropäischen Friedensordnung auf Basis des Status quo und des Völkerbundes sein oder entschied es sich für jenes enge und exklusive Bündnis mit den Westmächten, das so gar nicht auf den Weg zu einer gesamteuropäischen oder wenigstens deutsch-polnischen Verständigung führte? Diese Optionen bestanden und enthielten alle mehr oder weniger Risiken. Die theoretische Antwort auf die Frage, welche dieser Optionen nun die richtige gewesen wäre, ergibt sich einigermaßen einfach aus dem Ausschlußverfahren: Ein stabiles internationales System kollektiver Sicherheit, in dem die Staaten keine weiteren Bündniskonstellationen eingehen mußten, gab es nicht. Eine eigenständige Großmachtrolle überstieg offenkundig Polens Möglichkeiten, auch wenn man das in Warschau nicht recht einsehen wollte. Ein Bündnis mit den Westmächten bedeutete für seine Nachbarn eine Provokation, die den Krieg deutlich wahrscheinlicher werden ließ. Es blieben nur zwei Optionen übrig: Abwarten, jede vertragliche Bindung scheuen und ansonsten alles für eine funktionierende kollektive Sicherheit tun, oder ein festes Bündnis mit einem seiner Nachbarn schließen. Nun widersprach die erste Option dem Selbstverständnis des polnischen Staates. Kollektive Sicherheit setzt eine Akzeptanz des Status quo voraus und einen annähernd gemeinsamen Wertekanon der Staaten, wie ihn die Völkerbundsatzung formuliert hatte. Die Republik Polen war nicht mit dem Status quo zufrieden. Sie stellte die Grenzen zu sämtlichen Nachbarn mit Ausnahme Rumäniens in Frage, hatte die erste Gelegenheit genutzt, mit dem Minderheitenschutz einen wesentlichen Teil der Völkerbundsatzung außer Kraft zu setzen und war seit 1938 dabei, Gebiete Litauens und der Tschechoslowakei zu annektieren. Eine Stützung der Versailler Friedensordnung ging nicht von ihr aus. Blieb das Bündnis mit den Nachbarn. Ein polnisch-russisches Bündnis hätte für Polen ohne Zweifel einen Satellitenstatus bedeutet. Das galt wegen des ungleich größeren Machtpotentials des russischen Staates und wegen dessen kommunistischer Ideologie, deren Attraktivität die polnische Regierung fürchtete. Sie bekämpfte ihn mit ihrem autoritären Kurs — verbunden mit einer ähnlichen antisemitischen Komponente, wie sie zu dieser Zeit auch aus Berlin zu hören war. Ministerpräsident Slawoj—Skladkowski sagte es so:
Ob dagegen ein polnisch—deutsches Bündnisverhältnis für Polen zwangsläufig eine Art "Satellitenstatus" bedeutet hätte, wie gelegentlich zu hören ist, ist eher unwahrscheinlich, hing aber in jedem Fall von der konkreten Formulierung der Vereinbarungen ab. Polens Haltung war für Deutschland von existentieller Bedeutung und die polnische Regierung hatte deshalb die Möglichkeit, in einem Vertrag wenigstens ebenso gute Bedingungen wie Italien zu erreichen. Die Annexion Wilnas, die Annexion von Teilen der Tschechoslowakei und die gemeinsame Grenze mit Ungarn hatte die polnische Regierung in Zusammenarbeit mit der deutschen Regierung bereits erreicht. Dann war aus Deutschland das Angebot einer wechselseitigen Garantie der Grenzen gekommen, um den Weg zu einer weiteren Zusammenarbeit freizumachen. Diese bilaterale Anerkennung der Grenzen verwirklichte ein langjähriges Ziel der polnischen Politik und war geeignet, den früher gefürchteten deutschen Revisionismus in der Korridorfrage zu beenden. Daß die polnische Regierung eine solche Gelegenheit ausließ, war ein Signal, wie sehr sich die Kräfteverhältnisse in ihren Augen zu eigenen Gunsten geändert hatten. Polens militärstrategische Lage zwischen Deutschland und Rußland war in jedem Fall bedenklich, solange beide Staaten eine klassische Machtpolitik unter Einsatz von militärischem Druck betrieben. Ohne natürliche Grenzen und seinen beiden Nachbarn nach Bevölkerung und industrieller Leistungsfähigkeit um ein Vielfaches unterlegen, konnte die Republik Polen nicht auf eine Gleichwertigkeit auf diesem Gebiet hoffen. Nun ist zwischenstaatliche Rivalität aber kein Preisboxen und das größere Gewicht Deutschlands und Rußlands mußte sich nicht unbedingt so stark auswirken, sondern konnte dies nur unter der doppelten Voraussetzung innerer Stabilität und internationaler Instabilität tun. Waren beispielsweise die UdSSR und Deutschland von innenpolitischen Schwierigkeiten paralysiert, und davon ging die Warschauer Regierung lange Zeit und in gewissem Ausmaß auch noch 1939 für beide Staaten aus, dann sollte sich für das eigentlich schwächere Polen die Gelegenheit ergeben, sich zu behaupten oder gar zu profitieren. Andererseits stand in einem funktionierenden und ruhenden internationalen System sehr wohl ein Platz für den polnischen Staat bereit, ohne daß er sich exklusiv an einen der beiden Nachbarn binden mußte. Sollte sich der Völkerbund als effektiv erweisen oder waren die Westmächte einschließlich der USA auf andere Art und Weise als stabilisierende Faktoren in Europa zu etablieren, dann konnte Polens Mittellage sich kaum noch negativ auswirken, da in diesem Fall die traditionelle Gleichgewichtsordnung der Mächte wieder hergestellt sein würde, in der niemand einen anderen angreifen kann, ohne sich alle anderen zum Feind zu machen. Beides war 1939 offensichtlich nicht der Fall. Sowohl Deutschland wie Rußland verfügten über totalitäre politische Systeme, die mehr als alle anderen seit dem Ende des Absolutismus entstandenen staatlichen Verfassungen zu willkürlicher staatlicher Machtausübung fähig waren, auch wenn sie deren Grenzen, durch Tradition und Sachzwänge gezogen, nicht ganz aufheben konnten. Ergänzt wurde dies durch einen Zustand des Staatensystems, den man wohl am treffendsten als Interregnum oder vorübergehende Anarchie bezeichnen könnte — ein Zustand, der von der Republik Polen nach Kräften gefördert wurde. In dieser Situation hatte sich Polen nun entschieden, auf die Seriosität der Westmächte und der UdSSR zu vertrauen, Deutschland aber angesichts seiner vermuteten Schwäche eine spektakuläre Absage zu erteilen, deren juristische Details hier an anderer Stelle diskutiert worden sind. Die näheren Umstände des wechselseitigen britischfranzösisch—polnischen Vertragssystems machten es ohne Zweifel zu einer potentiellen Bedrohung für Deutschland einfach deshalb, weil man in Berlin von nun an damit rechnen mußte, im Konfliktfall schnell einen Zweifrontenkrieg führen zu müssen. Das war die Situation von 1914. Auch wenn Polen — wie bereits gesagt — auf militärischem Gebiet nicht mit Rußland vergleichbar war, verfügte es doch über beachtliche militärische Möglichkeiten, die in Verbindung mit französischen Truppen zahlenmäßig eindeutig eine Überlegenheit gegenüber Deutschland herstellten. Und die hätte den Krieg im September 1939 sehr schnell entscheiden können. Bei der Abwehr dieses drohenden Szenarios ging es in der Tat nicht um Danzig als Stadt oder Hafen, wie Hitler seinen Generälen in seiner Rede zur Unterzeichnung des Stahlpakts versicherte, der als Antwort auf die neuesten Entwicklungen zwischen Polen und den Westmächten gedacht war. Deutschland brauchte den Danziger Hafen nicht, es mußte aber den englisch polnischen Pakt entschärfen. Danzig war auch für Polen keine materielle Existenzfrage, es war für beide Seiten ein Symbol. Deshalb stellte es einen Prüfstein für das gegenseitige Verhältnis dar, wie Außenminister Beck dem Danziger Hohen Kommissar Burckhardt im Sommer 1938 sagte — und die kuriose Folge dieser symbolischen Aufladung bestand am Ende darin, daß es in der konkreten Situation von 1938/39 beiden Seiten eben doch um Danzig ging. Die deutsche Position zwischen dem Herbst 1938 und dem September 1939 faßte Goebbels in seinem Tagebuch treffend zusammen, just an jenem 25. März 1939, an dem der britische Botschafter Kennard aus Warschau über die außerordentliche Stärke und Kriegsbereitschaft der mobilisierten polnischen Armee berichtete:
Wie sich wenige Tage später zeigen sollte, war die polnische Regierung an einem Bündnis mit England mehr interessiert als an einer deutschen Grenzgarantie. Dabei blieb es den Sommer 1939 über, auch als aus Berlin Entspannungssignale kamen. Um den Konflikt zu entschärfen, auf einem Umweg wieder deutsch—polnische Gespräche in Gang zu bringen und die polnische Regierung zu beruhigen, schickte Hitler etwa den Danziger Gauleiter Forster am 19. Juli zum Hochkommissar Burckhardt. Er hatte den Auftrag, die deutschen Forderungen auf Danzig zu betonen, sollte aber gleichzeitig erklären, daß dies alles "noch ein oder zwei Jahre Zeit habe". (1) Das sollte Burckhardt an die polnische Regierung weitergeben, was dieser mit einigem Zögern auch tat. Sein polnischer Gesprächspartner Marjan Chodacki zeigte sich nicht interessiert, reagierte aber heftig auf Burckhardts Andeutung, Danzig könnte als Reaktion auf die aktuelle polnische Blockade vielleicht die Grenze für den Warenaustausch nach Ostpreußen öffnen: "Das bedeutet für Polen Krieg." Die polnische Regierung ließ fünf Tage später wissen, man fordere in Zukunft das völlige Desinteresse Deutschlands an der Freien Stadt, drohte andernfalls militärische Maßnahmen an und unterstrich dies durch entsprechende Truppenbewegungen. Hitler erwartete aufgrund dieser Maßnahmen eine Besetzung Danzigs durch Polen, sobald das Wetter größere deutsche Truppenbewegungen nicht mehr zuließ:
Deutschlands Diktator gedachte dieser Aussicht "bei der nächsten politischen Provokation in Gestalt eines Ultimatums, einer brutalen Mißhandlung Deutscher in Polen, eines Aushungerungsversuchs Danzigs, eines Einrückens polnischer Truppen in Danziger Gebiet oder dergleichen" militärisch zu begegnen oder aber eine politische Lösung zu erzwingen. An dieser Absicht hielt er auch noch nach Beginn der Kämpfe fest, die daher keineswegs begonnen worden waren, um dem polnischen Staat mehr als seine Rechte in Danzig streitig zu machen. Wer immer das politische Tauziehen um die Stadt gewinnen würde, der würde die Krise des Sommer 1939 in seinem Sinn gelöst und seinen Einfluß in Mittelosteuropa gesichert haben, daher stand Danzig im Zentrum aller Verhandlungen und Forderungen dieser Monate, vor und nach dem Kriegsausbruch. Nach dem Beginn der deutsch-polnischen Kampfhandlungen vermied die deutsche Seite das Wort Krieg. Man stellte den deutschen Angriff als begrenzte Aktion gegen die vorher beklagten polnischen Provokationen und die Ausschreitungen gegen die Deutschen in Polen dar, nicht als Auftakt zu einem Eroberungsfeldzug. Das hatte auch außenpolitische Konsequenzen. Hitler ließ am 2. September 1939 in London den sofortigen Rückzug aus Polen anbieten, wenn Deutschland dafür Danzig und die exterritoriale Straße durch den Korridor bekommen würde. Die englische Regierung lehnte dies aus allgemeinen politischen Erwägungen ab und erklärte am Folgetag formell den Krieg. Der Zweite Weltkrieg begann als deutsch-polnischer Konflikt, aber er erreichte bald umfassende politische Dimensionen und wurde von ethnischen Säuberungen und Völkermord geprägt. Dies stand oft auch einer genauen Analyse der Vorkriegsgeschichte im Weg und verdeckte den Anteil der polnischen Politik an dieser Entwicklung. -o-o-o-o-o-o-o-o-o-o-o-o-o- ____________ 1. Zit. n. ADAP, D, VI, Dok. 693, S. 798, 20. Juli 1939.
Stefan Scheil, Historiker, 1963 in Mannheim geboren, Studium der Geschichte und Philosophie in Mannheim und Karlsruhe, Dr. phil. 1997 in Karlsruhe. Er ist Autor zahlreicher Buchveröffentlichungen zur Vorgeschichte und Eskalation des Zweiten Weltkriegs, sowie zum politischen Antisemitismus in Deutschland, träger des Gerhard-Löwenthal-Preises für Journalisten 2005, verheiratet und Vater von zwei Kindern. weitere Informationen: |
Stand: 23.04.2024 |