Zuflucht tausender Ostpreußen: das Ruhrgebiet
In der Blüte der Industrialisierung brachen vor allem
Masuren Richtung Westen auf − Erfolgreiche Integration von Dagmar Jestrzemski
Wie
kaum eine andere Region Deutschlands wurde das Ruhrgebiet durch Einwanderung
geprägt. In der Hochphase der Industrialisierung des Ruhrgebiets um 1900
verließen auch Tausende junge Ostpreußen ihre Heimatgegenden, die meisten mit
der Absicht, sich mit Erwerbsarbeit im rheinisch-westfälischen Industrierevier
ein kleines Sparguthaben zu erwirtschaften, um anschließend in ihre Heimat
zurückzukehren. Dennoch blieben fast alle dauerhaft im „Kohlenpott“.
Mitten durch das Ruhrgebiet
verlief bis 1871 die Grenze zwischen der Preußischen Rheinprovinz und der
Preußischen Provinz Westfalen, was sich in den heutigen Verwaltungsgrenzen
widerspiegelt. Noch in den 1830er Jahren wurde das fruchtbare Gebiet zwischen
Ruhr und Lippe sowie zwischen Duisburg und Hamm hauptsächlich agrarisch genutzt.
Mit der Entwicklung des Bergbaus setzte eine gewaltige Umstrukturierung in
Westfalen ein, maßgeblich vorangetrieben durch die Übernahme moderner
Technologien aus dem Ausland. 1808 hielt die Dampfmaschine Einzug in den Essener
Bergbau. Nach 1840 rückte der Bergbau über den alten Hellweg (Essen, Bochum,
Dortmund) in das mittlere Ruhrgebiet vor. 1852 erreichte die Ausdehnung des
Reviers die bis dahin dünn besiedelte Emscherzone im Herzen des Ruhrgebiets
(Hamborn, Oberhausen, Gelsenkirchen, Herne) und überschritt den Rhein. Neue
Zechen wurden abgeteuft, um 1850 gab es bereits fast 300. Seit Mitte des 19.
Jahrhunderts wurden Dampfpumpen eingesetzt, um die stark wasserführenden
Mergelschichten zu durchstoßen und die Fettkohlenflöze zu erschließen. Damit war
die Grundlage für die aufkommende Eisenverhüttung geschaffen. Aus der Kohle
wurde in den Kokereien Koks erzeugt, der in den Hochöfen der Eisen- und
Stahlhütten zur Roheisen- und Stahlerzeugung benötigt wurde.
Der Arbeitskräftemangel im
aufstrebenden Revier an Rhein und Ruhr hatte einen ständigen Zustrom von
Erwerbssuchenden zur Folge. Hier bildete sich ein europäischer Schmelztiegel
heraus, und es entwickelte sich das „Ruhrvolk“. Um die Mitte des 19.
Jahrhunderts kamen zunächst Erwerbssuchende aus ländlichen Regionen Westfalens
und dem Rheinland, aus Hessen und Holland, wenig später wanderten Kumpel aus dem
oberschlesisch-mährischen Bergbaugebiet ein. In den Gründerjahren 1871/73 setzte
der Zustrom von Landarbeitern aus Ost- und Westpreußen, aus Galizien, Posen
Russisch-Polen und Slowenien in das westdeutsche Revier ein. Innerhalb dieser
Gruppierung nahm der Anteil der Ostpreußen immer weiter zu, schließlich bildeten
die Ostpreußen die größte Gruppe aller Zuwanderer. Da der Wirtschaftsaufschwung
der 1870er und 80er Jahre Ostpreußen als rein agrarischer Provinz des Deutschen
Reichs einen vergleichsweise geringen Nutzen einbrachte, war dort der Anreiz zur
Abwanderung in die Industriegebiete besonders stark. Eine der Ursachen war ein
hoher Geburtenüberschuss. Vermutlich wirkte sich auch die Grundbesitzverteilung
mit einem starken Anteil des Großgrundbesitzes von über 200 Hektar entsprechend
aus. Die genaue Zahl des Wanderungsverlusts ist nicht ermittelt worden, doch
wird geschätzt, dass zwischen 1865 und 1933 aus der Provinz Ostpreußen mehr als
eine Million Menschen abwanderten, von denen der größte Teil ins Ruhrgebiet
umsiedelte.
Fast zwei Drittel der
Abwandernden waren 15- bis 30jährig. Manchmal erfolgte die Abwanderung in zwei
Schritten: vom Dorf in die Kreisstadt und von dort in den Ruhrpott. Im Auftrag
der Zechenunternehmer reisten Agenten seit den 1880er Jahren in die ländlichen
Gebiete Ostpreußens, um junge verheiratete Kleinbauern und ledige Bauernsöhne
für eine saisonale Arbeit in der Ruhrzone zu interessieren. Ledigen wurde freie
Fahrt, Verheirateten ein freier Umzug versprochen, dazu ein Handgeld bis 50
Mark, verbilligte Winterkartoffeln und sofort beziehbare, geräumige
Zechenwohnungen am Stadtrand mit Stall und Garten. Der gebotene Lohn entsprach
dem Dreifachen eines Landarbeiterlohns in Ostpreußen. Zechen warben damals auch
mit der Güte der Luft, was sich aber bekanntlich bald ins Gegenteil verkehrte.
Besonders stark war die
Abwanderung aus Masuren in die Städte an Rhein, Ruhr und Emscher. Bis 1914
betraf dies ein Drittel der Einwohner, insgesamt rund 180.000 Menschen. So gut
wie jede Familie hatte Verwandte im Ruhrgebiet. Viele Unternehmer stellten
bevorzugt Masuren ein, da sie an harte Arbeit gewohnt waren. Bildungsmangel,
Religiosität und die Anspruchslosigkeit dieser Menschen waren aus Sicht der
Zechenbetreiber ein Grund zur Annahme, dass sie sich den Verhältnissen anpassen
und keine Streiks anzetteln würden. Je nach Anwerbungsschwerpunkt und durch
Mundpropaganda ergab es sich, dass ehemalige Bewohner der verschiedenen Orte und
Gegenden auch in den Kolonien des Ruhrgebiets wieder nahe beinander lebten.
Neidenburger und Ortelsburger siedelten sich vorwiegend in Gelsenkirchen an,
Lötzener in Wanne-Eickel, Osteroder in Bochum. Um 1930 war jeder vierte bis
fünfte Gelsenkirchener ein Ostpreuße. Bedeutend war auch der Zuzug von
Ostpreußen nach Essen. Werden, Steele, Witten und Wetter, also der Südrand des
Ruhrgebiets, waren gar nicht von der Zuwanderung aus Ostpreußen betroffen.
Sämtliche Bergarbeitersiedlungen im Ruhrgebiet waren bereits um 1900 stark
herkunftsgeprägt. Herne und Bochum waren die Hauptzentren der polnischen
Zuwanderung, während der Zuzug aus Westdeutschland in der nördlichen Zone am
alten Hellweg überwog, wo die größten Städte lagen: Duisburg, Mülheim, Essen,
Bochum und Dortmund.
Die landsmannschaftliche
Verbundenheit führte dazu, dass die meisten zugezogenen Bergleute und
Montanarbeiter aus Ostpreußen sich im Ruhr-Revier heimisch fühlten und blieben.
Bis um 1900 wurden in der Statistik alle slawischen Ostauswanderer als Polen
geführt. Auch für die Einheimischen waren die polnisch sprechenden Zuzügler,
Masuren wie Polen, sämtlich „Ruhrpolen“. Da Polen nach den drei Teilungen bis
1795 aufgehört hatte zu existieren, gab es keine polnische Staatsangehörigkeit,
sondern nur eine polnische Volkszugehörigkeit. Doch die ebenfalls als Polen
geführten Masuren beherrschten meist außer ihrer Muttersprache, einem
altpolnischen Dialekt, auch die hochdeutsche Sprache. Wegen ihrer
evangelisch-lutherischen Konfession nahmen sie unter den Ostzuwanderern eine
Sonderstellung ein. Anders als die polnischen Katholiken legten die Masuren viel
Wert auf eine religiöse Zugehörigkeit im privaten Bereich. In dieser Hinsicht
hatte der Ostpreußische Gebetsverein eine große Bedeutung. Erst seit Anfang des
20. Jahrhunderts erkannte die protestantische Amtskirche die Notwendigkeit einer
besonderen Masurenseelsorge. Spätestens in der dritten Generation waren die
ostpreußischen Familien vollständig assimiliert und fühlten sich zugehörig zum
„Ruhrvolk“.
Mit dem Zechensterben in den
1960er Jahren begann die Abwanderung von Erwerbssuchenden aus dem Gebiet, das
heute auch als Metropole Ruhr bezeichnet wird und trotz positiver Entwicklungen
nach wie vor mit strukturellen Problemen und hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen
hat.
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